„Nein sagen stärkt das Selbstbewusstsein“
Kleines Wort, große Wirkung: „Nein“ sagen fällt vielen Menschen schwer. Warum ist das so? Und was können wir dagegen tun? Mit Psychotherapeutin Elena Reiner sprechen wir über die Angst vor Enttäuschung und die Bedeutung eigener Bedürfnisse.
Frau Reiner, wann haben Sie das letzte Mal Ja gesagt – obwohl Sie eigentlich Nein sagen wollten?
Vermutlich ist das zuletzt passiert, als ich überarbeitet oder gestresst war. Vor allem in diesen Momenten nehmen wir uns meist nicht die nötige Zeit, um in uns hineinzufühlen. Das Gute jedoch ist: Ich darf meine Meinung ändern und aus einem Ja ein Nein machen – und zwar sobald mir bewusst wird, dass ich eigentlich etwas anderes möchte oder brauche.
Warum fällt es uns oft so schwer, Nein zu sagen?
In vielen Fällen sind es prägende Erfahrungen aus zwischenmenschlichen Beziehungen, die uns dazu bringen, blockierende Gedanken zu entwickeln – also: „Wenn ich Nein sage, wird mich der oder die andere ablehnen.“ Wir haben Angst davor, unsere Mitmenschen zu verletzen und zu verärgern und dadurch vielleicht sogar herzlos oder egoistisch zu wirken.
Welche Rolle spielt dabei das eigene Selbstbewusstsein?
Die Sorge vor dem Neinsagen hängt tatsächlich oft mit einem mangelnden Selbstwertgefühl zusammen. Schließlich bedeutet ein Nein zu anderen oftmals ein Ja zu sich selbst. Doch: Manchmal muss man andere enttäuschen – und im Einzelfall abwägen, ob man etwas wirklich tun möchte. Wenn wir immer alle Erwartungen der anderen erfüllen, dann bleibt uns irgendwann kein Raum mehr für unsere eigenen Bedürfnisse.
Gibt es bei diesem Thema Unterschiede zwischen Mann und Frau?
In meiner Praxis sehe ich, dass sowohl Männer als auch Frauen Probleme mit dem Neinsagen haben können. Was sich unterscheidet, sind die Lebensbereiche und Situationen. Noch immer herrschen unterbewusst zahlreiche Vorstellungen darüber, wie Männer und Frauen sein sollen – und somit auch, wann sie Nein sagen dürfen und wann nicht. Unser Blick auf uns und andere sowie unser Verhalten sind oft von diesen Stereotypen geprägt. Und spätestens im Schulalter kennen auch Kinder diese Rollenmuster.
Wichtig bei alldem ist immer, den anderen ihre Unabhängigkeit einzugestehen – und auch sich selbst immer wieder zu fragen: Macht mich diese auferlegte Rolle wirklich glücklich? Wir haben Angst davor, unsere Mitmenschen zu verletzen und zu verärgern.
Wie gut wir Nein sagen können, entscheidet sich also schon in der Kindheit?
Zwischen dem zweiten und dem dritten Lebensjahr kommen Kinder in die Trotzphase oder auch Autonomiephase, in der sie die Bedeutung des Wortes „Nein“ entdecken und die Reaktionen darauf testen. Kinder, die nur selten ein „Nein“ hören, lernen nicht, mi Frust und negativen Gefühlen umzugehen. Aus pädagogischer Sicht ist es sinnvoll, Trotzreaktionen nicht zu vermeiden. Auf der anderen Seite ist ein liebevoller Umgang in dieser Zeit besonders wichtig: Eltern sollen ihre Kinder deshalb innerhalb eines geschützten Rahmens und gemeinsam vereinbarter Regeln dazu ermutigen, selbst eine Meinung bilden zu dürfen – und die damit verbundenen Konsequenzen zu tragen. Und wie sieht es in der Pubertät aus? Entwicklungspsychologisch betrachtet ist die Adoleszenz – also die Zeit des Erwachsenwerdens – die typische Zeit, in der eine Ablösung von den einstigen Bezugspersonen stattfindet. Jugendliche nehmen eine Gegenposition zu den elterlichen Standpunkten ein, verändern gemeinsame Werte odergeben sie komplett auf. Dadurch bilden sie ihre eigene Identität aus und lernen zugleich aus ihren Fehlern. „Nein“ ist in dieser Zeit ein besonders wichtiges Wort zur Abgrenzung. Mein Tipp an Eltern: Hören Sie Ihren Kindern zu, sprechen Sie mit ihnen und seien Sie an ihnen und ihrer Meinung interessiert!
Ist die Angst vor dem Neinsagen eigentlich ein modernes Problem?
Ich denke, dieses Phänomen gab es schon immer. Früher wurde es jedoch stärker durch Kirche und Gesellschaft sanktioniert und daher eher im Verborgenen gelebt. Heute haben wir vor allem in der westlichen Welt viel häufiger die Option, offen Nein sagen zu dürfen. Zugleich steigt aber auch die gesellschaftliche Erwartungshaltung, der Alltag wird immer schneller und komplexer. Dabei spielt auch „FOMO“, also „Fear of Missing Out“ – zu Deutsch die „Angst, etwas zu verpassen“ –, eine wichtige Rolle. Wer nicht rund um die Uhr verfügbar ist, hat die Sorge, weniger wahrgenommen und gebraucht zu werden – und gleichzeitig die Angst, sich falsch zu entscheiden und etwas zu verpassen. Laut Studien führt das zu einem erhöhten Stresslevel und Erschöpfung …
… und im schlimmsten Fall auch zu Depressionen und Burnout.
Richtig. Betroffene verspüren oftmals den Zwang, sich zu beweisen. Daraus entwickeln sich mit der Zeit eine innere Leere und das Gefühl, nicht mehr allein aus einer verfahrenen Situation herauszukommen. In diesen Fällen spricht man vom Burnout-Syndrom. Mein Rat: Wenn Ihre Arbeit, Ihre Beziehungen, eine Situation oder eine Person Sie unglücklich machen, versuchen Sie, die Umstände zu ändern, oder gehen Sie. Wer auch mal Nein sagt, macht einen wichtigen Schritt hin zu mehr innerer Ruhe – und stärkt sein Selbstbewusstsein. Denn es erfordert die Kontrolle der eigenen Bedürfnisse: Will ich das wirklich? Oder brauche ich gerade etwas anderes?
Manchmal muss man auch Nein zu sich selbst sagen. Warum fällt es uns schwer, gewohnte Abläufe zu ändern?
Gut Ding braucht Weile – egal, ob ich mir etwas an- oder abgewöhnen möchte. Im Durchschnitt dauert es ungefähr zwei Monate, bis eine Gewohnheit automatisch abläuft. Dazu gehören seltenere Raucherpausen, gesunde Snacks statt Süßigkeiten beim Fernsehen oder der Verzicht auf das Feierabendbier. Unser Gehirn prägt sich Wiederholungen ein und lernt daraus. Studien haben gezeigt, dass es nicht so schlimm ist, wenn eine Gewohnheit an vereinzelten Tagen nicht eingehalten wird.
Wichtig ist daher, klein anzufangen, sich ausreichend Zeit zu nehmen und sich der Vorteile der Veränderung bewusst zu werden. Je öfter wir etwas auf eine gewisse Art und Weise tun, desto schneller gewöhnen wir uns daran. Dranbleiben lohnt sich. Wer auch mal Nein sagt, macht einen wichtigen Schritt hin zu mehr innerer Ruhe – und stärkt sein Selbstbewusstsein.
Was raten Sie Menschen, die nicht Nein sagen können?
Übung, Übung, Übung: Das gilt auch fürs Neinsagen. In erster Linie ist es wichtig, sich der eigenen Bedürfnisse bewusst zu sein. Nur wenn ich diese kenne, kann ich zu ihnen stehen. Deshalb: Schluss mit Überfürsorglichkeit. Diesen Tipp gebe ich auch meinen Leserinnen und Lesern in meinem Blog. Wenn Sie gewohnheitsmäßig anderen Menschen Probleme und Pflichten abnehmen, lernen Sie, höflich davon Abstand zu nehmen. Lernen Sie zu delegieren – nicht nur in der Arbeit, sondern auch zu Hause und im Freundeskreis. Versuchen Sie, das für Sie Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Und zuletzt: Verbringen Sie weniger Zeit mit Grübeln und stattdessen mehr damit, Ihre wirklichen Bedürfnisse wahrzunehmen und sich um sie zu kümmern.
Elena Reiner, 30, ist studierte Psychotherapeutin. In ihren zwei Praxen in Wien und im Burgenland bietet sie Therapie, Beratung und Achtsamkeitstrainings für Paare, Erwachsene und Jugendliche an. Zu ihren Schwerpunkten zählen dabei unter anderem die Themen Burnout, Depression, Panikattacken/Ängste und Selbstbewusstsein.
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